Alltag in einer mittelalterlichen Stadt.

Zwischen Pest und Pogrom.

 Von Jacques Schuster , 27.09. 2008,

Am Beispiel von Augsburg enthüllt der Historiker Kay Peter Jankrift den oft so brutalen Alltag im Mittelalter.

 

Der Tod ist ein Nimmersatt. Gierig greift er sich die Menschen. Manchmal scheint er nicht da zu sein, dann ist man beruhigt. Doch plötzlich wartet er im Schatten einer Fackel und macht Kniebeugen, bis er wieder zuschlägt.

Die Stadt im Mittelalter kennt den Tod besser als unsereins. Sie sieht ihn fast jeden Tag in den Gassen und Gärten, den Stuben und Spelunken, auf Märkten und Messen, in Kirchen, Klöstern, auf den Feldwegen, draußen im Wald, auf dem Friedhof, kurz: wo man hinschaut, bei hoch und niedrig, bei vornehm und gering. "Mitten im Leben sind wir vom Tod umgeben", schreibt Mönch Notker aus Sankt Gallen im neunten Jahrhundert. Er schildert nicht mehr als den Alltag seiner Zeit. Ist der Tod heute in die Krankenhäuser und Altersheime abgeschoben, steht er im Mittelalter als stummer Gefährte unter den Menschen. Bis in die frühe Neuzeit hinein beträgt die Kindersterblichkeit um die 50 Prozent. Trotz hoher Geburtenrate bleiben die Familien klein. Sie fürchten vor allem Masern, Mumps und Keuchhusten. Irrig wäre es anzunehmen, das die Eltern ihren Verlust trotz der vielen Toten gleichgültig aufgenommen hätten. Nach einer Seuche, die mehr als fünfhundert Kindern das Leben kostete, schreibt Gregor von Tours: "Auch wir verloren die süßen, teuren Kleinen, die wir auf unserem Schoß gehegt, in unseren Armen gewiegt, denen wir mit eigener Hand Speisen gereicht und sie mit ängstlicher Sorge genährt haben."

Oft blieb es nicht bei den Kindern. Viele Mütter starben. Der Kaiserschnitt war noch nicht sicher. Wenn er angewandt wurde, dann meist von Heilern ohne Wissen darüber, wie man den Blutverlust verhindern kann. Erst im 17. Jahrhundert soll in Wittenberg eine Frau den Eingriff überlebt haben.

Zog die Pest übers Land, traf es klein und groß, alt und jung. Jedermann. Allein im Augsburg des 14. Jahrhunderts kehrte der "schwarze Tod" fünfmal in die Stadt zurück. Stand er vor ihren Toren, liefen Geißler durch die Gassen, barfuß und singend, mit Peitschen in den Händen, um sich bis aufs Blut zu schlagen und die Sünde auszutreiben. Ein merkwürdiger Geruch hing über den Häusern. Wohlriechende Substanzen sollten die Luft von Bazillen reinigen. Arzneikundige Mönche empfahlen die Einnahme von Theriak, einem angeblichen Allheilmittel, ursprünglich aus Vipernfleisch, das den Körper stärken sollte und so half wie Meditonsin gegen die Syphilis. Das die Pest von Ratten und Flöhen übertragen wurde, war nicht bekannt. Das Volk hielt die Juden für verantwortlich. Gewann das Märchen an Kraft, ging es ihnen an den Kragen. Noch vor der Pest schlug der Tod in Form des Mordes zu. Die Juden wurden aus ihren Häusern getrieben, umgebracht. Der "schwarze Tod" kam trotzdem.

Wen er dahinraffte, der endete im Massengrab. Doch auch in ruhigen Zeiten glichen die Friedhöfe verwilderten Totenäckern. Sie beherbergten so viele Leichen, das häufig Gliedmaßen aus dem Erdreich hervorragten. Nicht selten kam ein Kadavergeruch vom Friedhof. Gevatter Tod stand nicht nur vor Augen, sondern er steckte auch in aller Nasen. Häufig sah man ihn sogar am Werk; dann feierte man ihn und freute sich. Der Henker war kein verhasster Mann im Mittelalter, auch wenn ihn sein Gewerbe "unehrlich" machte und keines seiner Kinder ein Handwerk erlernen durfte. Meist übernahmen sie die Ein-Mann-Betriebe ihrer Väter und gründeten Scharfrichterdynastien. "Meister Hämmerling", wie der Henker auch genannt wurde, war ein Angestellter der Stadt mit festen Tarifen. Fürs Hängen, Enthaupten und lebendig Begraben erhielt er in Augsburg fünf Schilling Pfennige; zehn fürs Rädern und noch mehr, wenn es ans Verbrennen ging. Billiger kam die Stadt weg, wenn "Meister Hans" Finger, Hände und Ohren abschnitt, Zungen herausriss oder seine Opfer auspeitschte. Auch zur "peinlichen Befragung", wie man die Folter nannte, rief die Stadt nach ihrem "Blutvogt". Manchmal bereitete er der Bevölkerung sogar ein besonders grausiges Schauspiel. Dann frittierte er Schuldiggesprochene in siedendem Öl. Beliebt war bei den Zuschauern auch das Sterben im "Vogelhaus". Es war unter anderem Mönchen vorbehalten, die man der Homosexualität überführt hatte. Dazu baute "Meister Hämmerling" ein Gerüst, an dessen Ende ein Käfig hing. In ihn sperrte er die Kleriker und schmiedete sie an den Händen und Füßen fest. Unter dem Jubel der Bürger sollten sie verhungern. Ihr Todeskampf währte neun Tage. "Das war sicher ein elender, harter Tod", hält der Augenzeuge Burkhard Zink das Erlebte fest. Die Mehrheit der Bürger störte sich daran genauso wenig wie an der Regel, die von Henkershand Getöteten den Vögeln zum Fraß zu überlassen.

Der Bochumer Historiker Kay Peter Jankrift erzählt diese drastischen Geschichten, nicht ohne scheinheilig zu behaupten, es ginge ihm gar nicht um das Grausige, sondern nur um das Alltagsleben im Mittelalter. Wahrscheinlich haben er und der Verlag seinem Buch deshalb den Titel "Henker, Huren, Handelsherren" gegeben. Jankrift wünscht sich Leser und die - so hofft er - laufen ihm eher zu, wenn er die Interessierten auf die Richtplätze führt. Recht hat er darin, und es sei ihm an dieser Stelle verziehen. Jankrift gelingt es tatsächlich, das Leben der Stadt mit ihren wenigen Licht- und den vielen Schattenseiten anhand der Quellen darzustellen, also wissenschaftlich zu bleiben und doch farbig zu zeigen, wie der Städter des Mittelalters lebte, wie er liebte, wie er starb. Weil die Quellenlage für Augsburg gut ist und die Stadt im Südwesten Bayerns nicht nur eine der ältesten, sondern mit etwa 15 000 Einwohnern auch eine der größten Metropolen des Deutschen Reiches war, blickt Jankrift vor allem auf die reichsunmittelbare, die freie Reichsstadt mit ihren Patrizierfamilien, ihren Zünften und all dem anderen Volk.

Tun wir es ihm nach, lassen Freund Hein beiseite und betreten Augsburg an einem beliebigen Sommertag des frühen 15. Jahrhunderts. Hoffentlich gelingt es uns nach all dem Sterben, die Siedlung der "ussetzigen", der Lepra-Kranken am Rande der Stadt, zu umgehen. Vielleicht schaffen wir es sogar, Augsburg nicht gerade durch das Jakobstor zu betreten, an dem eines der Almosenhäuser liegt. Lassen Sie uns daher mit Hilfe von Jankrift gleich die Gassen innerhalb der Stadtmauer durchwandern. Haben wir Glück, preisen Händler ihre Waren an. Sie bieten Schuhe, Gürtel und Beutel aus Leder, Filzhüte und Holzlöffel feil. Es duftet nach frischem Brot. Haben wir Pech, so umgibt uns ein Juchtengeruch aus Schweiß und Exkrementen, aus Armut und Elend. Die Straßen sind nicht gepflastert. In "Trippen", hölzernen Überschuhen, waten wir durch Küchenabfälle und Fäkalien. Ratten rasen durch die Gassen, Hunde suchen nach Fressbarem. Straßenfeger gibt es genauso wenig wie die Müllabfuhr. Steht der Dreck zu hoch, lässt der Stadtrat die Gegend einfach mit Hilfe eines Tores verschließen. Dürstet es uns, so müssen wir nach einem der sieben Brunnenkasten Ausschau halten. Seit 1412 sind sie durch ein Rohrleitungssystem verbunden, das das Wasser aus einem Brunnenhaus am Schwibbogen-Tor ins Innere der Stadt pumpt. Womöglich treffen wir auf dem Weg dorthin einen der Handelsherren, vielleicht sogar einen der Fugger, die zunächst mit Barchent, einem Gewebe aus Leinen und Wolle, handelten und schnell reich wurden. Gewürze kommen dazu. Sie machten Andreas Fugger zu einem der reichsten Männer im Reich. Gut sechzig Jahre später werden seine Nachfahren die erste Sozialsiedlung der Welt gründen: die "Fuggerei". Bis heute dürfen dort verarmte Augsburger zu denselben Bedingungen wie damals wohnen.

Trotz der Armen ist die Stadt in den Jahren des 14. Jahrhunderts wohlhabend geworden. Sie verschafft den Zimmerleuten und Bäckern, den Schmieden und Schäfflern hohes Ansehen und lässt ihre Zünfte so selbstbewust werden, das sie von den Ratsherren Mitsprache fordern und auch erlangen. Ihr Erfolg geht als Zunftrevolution von 1368 in die Geschichte ein.

Doch hier geht es nicht um Politik. Es geht um die Stadt, ihr Anblick und ihr Wesen. Nehmen wir uns also in Acht. Denn ein böiger Wind zaust die Abenddämmerung. Bald wird es dunkel, und die Nacht gehört der Unterwelt. Schon torkeln Zecher aus den Schankstuben nach Hause. Denen, die bleiben, sitzt der Dolch locker. Einige werden am Morgen Bekanntschaft mit dem Henker machen. Andere treffen ihn vielleicht schon in der Nacht. "Meister Hämmerling" nämlich hat noch einen weiteren Posten inne. Er ist der Herr über die "Hübschlerinnen", die Prostituierten, die im "Frauenhaus" ihre Dienste anbieten. Seit 1369 wird es von der Stadt betrieben. Der Henker wacht darin. Gleichzeitig geht er gegen die Lockvögel der Lust auf der Straße vor, die den Männern ohne Erlaubnis zu Willen sind. Diesen "Aufmacherinnen", "Einstößerinnen" oder kurz "Arschverkäuferinnen", wie das Achtbuch sie nennt, kann "Meister Hans" dennoch kaum das Handwerk legen.

Das Buch von Kay Peter Jankrift: „Henker, Huren, Handelsherren“

Alltag in einer mittelalterlichen Stadt. 

Quelle:

Tageszeitung: “Die Welt „ vom 27.09.2008